wie und wo kann man da "leicht" eine MTF messen? Entweder man müsste das Zwischenbild vermessen, hätte dann aber nur eine Aussage über die Objektive, was ja nicht reicht. Oder man müsste ein künstliches Auge hinter das Okular platzieren, damit überhaupt erst ein messbares Bild entsteht, in dem man die MTF bestimmen kann. Dieses künstliche Auge müsste irgendwie standardisiert sein, da es ja zum optischen System gehört und somit die Abbildungsleistung mit beeinflußt. Schon da mag es Streit geben, welches künstliche Auge zu welchem Fernglas-Design besser passt - von einem realen Auge ganz zu schweigen. Ein reales Auge ändert außerdem ständig seine Blickrichtung, zum einen unwillkürlich in Mikrosakkaden, zum anderen natürlich auch willentlich. Eine künstliches Auge müßte dieses Augenrollen hinter der Fernglas-AP irgendwie imitieren, um zu sinnvollen Aussagen über die Bildleistung am Bildfeldrand zu kommen, eine weitere technische Schwierigkeit.
Außerdem darf man nicht vergessen, dass die MTF von sehr vielen Faktoren abhängig ist, Bildhöhe, Bildfeldwölbung usw. und u.a. auch deutlich von der Entfernung. Man müßte also nicht nur für unendlich, sondern für unterschiedliche Entfernungen messen, und könnte sich dann über die Relevanz einer Vielzahl von Daten und Messkurven trefflich streiten. Denn für die nötige Interpretation komplexer Daten lassen sich längst nicht so eindeutig klare Kriterien anlegen, wie sich das manch einer vereinfacht vorstellt, weil individuelle Augen eines Beobachters auch individuell unterschiedliche Bedürfnisse haben. Jemand mit normalem Visus hat von höchster Auflösung nichts, vielleicht aber von maximalem Kontrast. Bei jemandem mit kontrastschwächeren Augen (z.B. höherer Durchlässigkeit der Iris) aber höherer Rezeptordichte mag es umgekehrt sein. Und da sich die Augen im Laufe des Lebens ändern, wird einem Dritten eine allzu einseitige Auslegung in die ein oder andere Richtung auch nichts nutzen, er bevorzugt den ausgewogenen Kompromiss.
Natürlich wäre es interessant, diese Zusammenhänge von einem rein wissenschaftlichen Standpunkt aus zu untersuchen und so vielleicht mehr über das System Auge-Fernoptik herauszufinden. (Bisher operieren die Hersteller eher mit jeder Menge Empirie, aber das nicht schlecht, denn selbst den scheinbar einfachen Strahlengang eines Fernglases kann noch niemand perfekt rechnerisch im Computer abbilden). Aber beim Interpretieren lauern etliche Probleme, solange man nicht recht weiß, wie das Auge wann reagiert. Viele stellen sich fälschlich vor, das Auge wäre wie eine Art Kamera mit Objektiv und Bild auf der Netzhaut und wenn man dieses Bild auf der Retina vermessen würde, wüsste man Bescheid. Nichts ist verkehrter. Das Auge detektiert und generiert (!!) die Dinge, um die es hier gehen soll, die Schärfe und Kontrast eines Bildes, ganz anders als eine Kamera. Ein Fotoobjektiv muß darauf ausgelegt sein, die Bildleistung über einen möglichst groß ausgedehnte Fläche hoch zu halten, Ausleuchtung, Schärfe und Kontrast sollen zum Bildfeldrand möglichst wenig absinken. Die betreffenden Leistungsunterschiede kann man mit MTF-Kurven zwar (bedingt) vergleichen. Das alles ist beim Auge jedoch komplett anders, hier reicht ein simples Ein-Linsen-System vermeintlich schlechter optischer Qualität völlig aus, weil es nur darauf ankommt, in einem winzigen zentralen Bereich der Retina, der Fovea, ein maximal scharfes Bild zu haben. Der Rest es Netzhautbildes ist geradezu extrem unscharf. Die MTF des Abbildungsapparates im Auge fällt daher äußerst bescheiden aus, was aber nicht viel zur Sache tut, weil sie in einem winzigen zentralen Bereich gut genug ist und der große Rest, die Peripherie der Netzhaut, auf Aspekte der Bildbearbeitung hoch spezialisiert ist, wofür ein unscharfes Bild dort vollkommen genügt. Ein bedeutender Teil des Bildkontrastes wird gar nicht direkt detektiert, sondern erzeugt, ebenso wie ganze Farbbereiche (Blau) in der Fovea gar nicht detektiert werden können, weil dort gar keine Blauzapfen vorkommen. Da wir Blau scharf sehen können, ist anzunehmen, dass dieser Bildeindruck mit Hilfe von Informationen aus der unscharfen Netzhautperipherie erst cerebral generiert wird. Solange man über derlei Dinge aber noch nicht genug weiß, wäre es ziemlich vermessen, im wörtlichen Sinne, aus künstlich ermittleten MTF-Kurven vorschnell auf wahrnehmbare optische Leistungsunterschiede zu schließen.
Ich fürchte sogar, solche Ergebnisse würden vorschnell unweigerlich ins Marktgeschehen übertragen und dabei instrumentalisiert, mit entsprechend negativen Auswirkungen, noch ohne das man überaupt recht verstanden hätte, was die Datenflut bedeuten könnte und sich darin möglicherweise verbirgt. Ich fürchte, die wünschenswerte Vielfalt der Auslegung von Ferngläsern würde von nur scheinbar objektiven Meßkurven durch den Druck der Kunden schleichend weiter verschoben, und damit das schon oft beklagte "Abnehmen der Diversifizierung" des Angebots mit dem Schielen auf Messwerte nur noch weiter befördert. Kunden - wir alle - sind widersprüchlich, und möchten gern belogen werden, oft um so mehr, je weniger wir uns das selbst eingestehen wollen. Würde ein Händler darauf hinweisen, "Ihr Visus reicht nicht (mehr) für diese hochgezüchtete Optik mit extremer MTF, nehmen Sie für Ihre Zwecke lieber ein vielleicht kleineres, oder weitwinkligeres, oder helleres Glas.. " wer wollte das hören? Würde er dagegen sagen - "hier haben sie die beste MTF..." auch wenn der Käufer gar nicht weiß wie das gemeint ist und ob dieser angebliche "beste" MTF-Verlauf für sein Auge überhaupt sinnvoll ist... Die in Fotozeitschriften so gern veröffentlichten Kurven für Objektive sprechen m.E. Bände - oft weniger über die getesteten Objektive, als über Käufer, die auf Zahlen fixiert sind, deren Bedeutung sie oft gar nicht richtig verstehen und woraus dann Rangfolgen ableitet werden, die z.T. mehr auf verfälschenden Haarspaltereien beruhen, als auf real deutlich sichtbaren Leistungsunterschieden an einem konkreten Sensor. Man stelle sich nun vor, Ferngläser, deren MTF-Kurven beträchtlich schlechter ausfallen werden (Prismen, Planoptik!) werden von den Kunden dann mit denen von Foto-Objektiven verglichen... Kunden, die aber kaum Ahnung davon hätten, was diese Kurven in Bezug auf ihre Augen überhaupt bedeuten könnten, weil selbst Wissenschaftler das noch nicht überblicken dürften. Und welcher vergleichende Kunde würde da hören wollen, dass ein Ferglas ganz anders ausgelegt sein muß als ein Objektiv? Es würden vermutlich sogar unsinnige Anforderungen erhoben, bis irgendwelche Anbieter sie bedienten. Abgesehen von den o.g. technischen Gründen, kann ich die Zurückhaltung der Hersteller aus Gründen der Psychologie daher sehr gut verstehen.
Ich glaube der Wunsch nach scheinbar objektiven Messdaten wird um so größer, je weniger die Leute ihren Beobachteraugen trauen, je unsicherer sie sind, je schneller sie kaufen wollen und je mehr sie dabei erwarten auch ja die vermeinlich maximale Leistung für's Geld zu erhalten. Und dabei wird vergessen, dass es irgendwann bei der Entscheidung in Wahrheit kaum noch um's Beobachten geht, sondern um's technische Maximieren irgendwelcher Parameter. Diesen Anspruch, das allzeit vermeintlich zahlenmäßig messbar Beste haben zu wollen, oder seine Wahl darin bestätigt zu sehen, dass irgendwelche Zahlen maximal sind, am besten möglichst wenige Zahlen, denen damit auch noch eine besonders hohe Aussagekraft zugesprochen wird, halte ich für vermessen und verfälschend. Sich immer weniger auf die eigenen Augen zu verlassen und fremden Messungen irgendwann sogar mehr zu trauen den eigenen Eindrücken, finde ich zunehmend pervers. Der dahintersteckende Optimierungswahn scheint mir irgendwie symptomatisch für unsere Zeit, in der viele blind dafür geworden sind, dass manches nur unwesentlich schlechter, aber dafür schon mit viel weniger Aufwand zu erreichen ist, wenn man sich nicht von falschen Ansprüchen blenden lässt. Es heißt oft, Zahlen lügen nunmal nicht. Doch, das tun sie, besonders wenn sie zum Selbstzweck werden oder man glaubt damit auch schon dann etwas anfangen zu können, wenn man sie Wahrheit gar nicht recht interpretieren kann. Oder wenn sie zum reinen Verkaufszweck werden. Was der Markt längst erkannt hat, weshalb dem Käufer Messwerte als "Leistungsdaten" untergejubelt werden, die mit anderweitigen verschwiegenen Produktnachteilen manchmal sogar teuer erkauft sind. Man fokussiert sich auf möglicherweise verfälschende oder verfälschte Zahlen, weil man sonst kaum noch visuelle Unterschiede erkennen kann und stellt andere wichtige Eigenschaften unmerklich hintan oder übersieht sie, oder, darauf angesprochen, leugnet sogar ihre Bedeutung....
Gut möglich, dass die Kunden vom Markt irgendwann genau das bekommen, was sie unbedingt meinen haben zu müssen: MTF-Daten, die zusammengepresst in ein paar Zahlen auf bunten Klebeschildchen ein weiteres "Top-Feature" vorgaukeln. Statt sich aber von vermeintlich objekiven MTF-Kurven gefangen nehmen zu lassen, würde ich beim Kaufentscheid eher sagen: Augen auf beim Eierkauf. Lieber vergleichend hinsehen, in Ruhe ausprobieren, anhören womit andere mit ähnlichen Interessen beobachten, auswählen - und sich dann statt Zahlenspielen dem Beobachten widmen.
2-mal bearbeitet. Zuletzt am 13.05.15 16:56.