Ein Astigmatismus von < 0,5 dpt. gilt medizinisch als nicht korrekturbedürftig - schon deswegen, weil die Brechkraft des Auges natürlicherweise um bis zu 0,3 dpt. am Tag schwanken kann. Von daher ist es auch schwierig, überhaupt den genauen individuellen Mittelwert der Brechkraft zu erfassen: dazu wären wiederholte Sehschärfenbestimmungen über einen längeren Zeitraum unter verschiedenen Bedingungen nötig (z.B. bei körperlicher Anstrengung, bei Ermüdung, bei vorübergehender gesundheitlicher Beeinträchtigung wie Erkältungen oder chronischen latenten Infekten, oder je nach Ernährungslage usw. usw.)
Solche geringen natürlichen Schwankungen bereits als behandlungsbedürftige "Fehlsichtigkeit" zu interpretieren, ist eher dem Zug der Zeit geschuldet und eine willkommene Basis für Geschäftemacherei. (Mit gleichem Recht könnte man die natürliche tägliche Schwankung des Körpergewichts von 1-2kg als weitverbreitetes "mildes" Über- oder Untergewicht interpretieren, das demzufolge ebenso behandlungsbedürftig wäre... )
Der Anteil der Leute mit sichtbar korrekturbedürftigem Astigmatismus von konstant > 0,5 dpt. liegt bei etwa 20%, von einer Mehrheit kann daher keine Rede sein, auch nicht unter Brillenträgern. Noch weniger, wenn man bedenkt, dass Astigmatismus nicht nur durch Brillen, sondern auch durch Kontaktlinsen oder Laseroperationen korrigiert wird. Nicht vergessen darf man außerdem, dass z.B. Kurzsichtige beim Blick mit Brille durch das Fernglas wegen der bildverkleinernden Wirkung der Zerstreuungsgläser einen sichtbaren Auflösungsverlust hinnehmen müssen, bzw. ohne Brille demgegenüber einen Auflösungsgewinn haben, was einen schwachen Astigmatismus überkompensieren kann.
Wenn nicht andere Gründe dafürsprechen, die Brille aufzubehalten (z.B. ständiger rascher Wechsel von Blick ohne und mit Fernglas bei Vogelbeobachtungen, fehlender Überhub, bzw. zu geringer Dioptrienausgleich am Glas, deutliche Weitsichtigkeit bzw. deutlicher Astigmatismus mit Auflösungsgewinn durch die Brille, Bequemlichkeit usw.) , wenn also die Fehlsichtigkeit auch durch den Verstellbereich des Fernglas allein ausgeglichen werden kann, dann dürfte rein optisch gesehen in der Mehrzahl der Fälle der Blick durchs Fernglas ohne Brille das bessere Bild ergeben. Denn andernfalls kann zusätzlich zum seitlich einfallenden kontrastmindernden Störlicht jedes überflüssige optische Element im Strahlengang die Bildqualität negativ beeinträchtigen, sei es durch zusätzliches Streulicht, verminderte Transmission, oder die linsentypischen Abbildungsfehler zum Rand hin, wie Chromasie, Verzeichnung usw. usw.
Ein weiterer Nachteil der Brille kann es sein, dass die stabilisierende Kontaktfläche zwischen Beobachter und Fernglas geringer ist bzw. deren Lage ungünstiger ausfällt, so dass das Glas beim Andrücken an Brille und Kopf weniger ruhig gehalten werden kann, weil es leichter nach oben oder unten verkippt. Denn meist liegt nur der obere Rand der eingefahrenen Drehaugenmuschel am Brillenglas auf, während ohne Brille die ausgedrehte Muschel zugleich oberhalb und unterhalb der Augenhöhle abgestützt wird. (Überhaupt sind gut angepasste Augenmuscheln ein wichtiger Aspekt, dem noch zu wenige Hersteller mit verschieden Muschelprofilen Rechnung tragen).
Eine generelle Empfehlung zu Brille, Astigmatismus und FG kann es nicht geben - man muß es individuell ausprobieren, genau hinschauen, was passiert und dann Vor- und Nachteile abwägen, bzw. je nach Beobachtungssituation entscheiden. Was z.B. bei Sternbeobachtung am Nachthimmel als Punktlosigkeit schon auffällt und stört, kann bei Tagbeobachtung unmerklich bleiben. Unter Umständen kann es sogar sinnvoll sein, sich vom Optiker eine astigmatische Korrekturlinse am Fernglasokular anbringen zu lassen, um ohne Brille beobachten zu können.
Last but not least wäre es schön, wenn es für die, die keine Brille zum Beobachten brauchen, wenigstens einige wenige moderne Gläser ohne Brillenträgerokulare gäbe, denn dadurch könnte man solche Gläser entweder preiswerter, oder leichter oder weitwinkliger machen (wie es bei den älteren Porrodesigns der Fall war bzw. ist). Aber im Zeitalter der freien Märkte gelten Charakterköpfe als chancenlos, während selbst die x-te Kopie der stromlinienförmigen eierlegenden Wollmilchsau, die es mit ihrer Featuritis allen recht machen will, noch als marktkonformes Nonplusultra gefeiert wird.
1-mal bearbeitet. Zuletzt am 09.07.13 19:04.