Vorab: Im Interesse präziser Sprache zur Vermeidung von Mißverständnissen benutze ich den Begriff „Dämmerungsleistung“ nur ganz allgemein im Sinne von „Eignung oder Fähigkeit eines Fernglases zur Beobachtung in der Dämmerung“ und den Begriff „Dämmerungszahl“ für die unter diesem Namen bekannte Kennzahl „Wurzel aus Produkt von Vergrößerung und Öffungsdurchmesser in Millimeter“, mit der die „Dämmerungsleistung“ quantitativ ausgedrückt werden soll.
Die Einführung der Dämmerungszahl vor ewigen Zeiten (ich weiß nicht, wer sie wann eingeführt hat) muß wohl ein nicht richtig durchdachter Schnellschuß gewesen sein. Da sie auf den ersten Blick bei oberflächlicher Betrachtung „einleuchtet“ und vor allem, weil sie eine griffige „Kennzahl“ liefert anstelle sorgsam gegeneinander abzuwägender Parameter, die sich nur mit ausreichenden Fachkenntnissen und unter Beachtung individueller Beobachtungssituationen beurteilen lassen, hat sie sich auf breiter Front international durchgesetzt. Es gibt kaum einen Fernglashersteller oder Fernglasvertreiber, der nicht in seinen technischen Daten auch die Dämmerungszahl aufführt (engl. Bezeichnung: „twilight factor“). Der in den USA populäre „visibility factor“ oder gelegentlich auch „visibility index“ des Astronomie-Buchautors Roy L. Bishop ist nichts anderes als das Quadrat des Dämmerungsfaktors und macht die Sache statt besser noch schlechter, weil die Potenzierung die irreführenden Werte noch stärker spreizt und so die scheinbaren Leistungsunterschiede überbetont.
Völlig unsinnig ist die von Ihnen zitierte, auch schon relativ alte, aber glücklicherweise weitgehend vergessene Interpretation des Dämmerungsfaktors als eine Art „Reichweite“ in Meter. Das kann gar nicht stimmen, denn auf welche Distanz die benötigten Details erkennbar sind, hängt ja auch von der in der Dämmerungszahl überhaupt nicht erfaßten Objekt- und Detailgröße sowie andererseits von der momentanen Beleuchtungsstärke, die sich je nach Jahreszeit und Bewölkung über mehr als eine Stunde bis viele Stunden laufend ändert, während der Dämmerungsphase ab (Beispiel: um Details an einen Marder erkennen zu können, ist – gleiche Bildhelligkeit und Vergrößerung vorausgesetzt, eine viel kürzere Entfernung nötig als an einem Elch). Falls Sie das nicht nachvollziehen können sollten, frage ich Sie, wie hoch denn dann wohl die Dämmerungsleistung (= „Entfernung in Meter, bei der noch Details bei Dämmerlicht unterschieden werden können“) des menschlichen Auges ohne Fernglas ist? Sie müßte die Wurzel aus dem Produkt aus 1 (= Vergrößerungsfaktor ohne Fernglas) und 7 (angenommener max. Öffnungsdurchmesser der Augenpupille), also ca. 2,65. Können Sie bestätigen, daß Sie in der Dämmerung mit bloßem Auge Details noch oder nur bis 2,65 m Entfernung erkennen können? Sie sehen also, wie unsinnig die Reichweiteninterpretation der Dämmerungszahl ist.
Wenn überhaupt, so eignet sich die Dämmerungszahl nur zum Vergleich von Ferngläsern sehr nahe beieinander liegender Vergrößerungen und Öffnungen bei der Beobachtung flächiger, also zumeist terrestrischer Gegenstände (also nicht punktförmiger Gegenstände wie in der Astronomie). Sobald Vergrößerung und/oder Öffnung sich bei den betrachteten Ferngläsern stärker unterscheiden, kommt es zu ganz absurden Ergebnissen, wenn man die Dämmerungszahl als Leistungsindex darauf anwendet: So müßten z.B. ein 7x50-Glas und ein 50x7-Glas gleichwertig sein, worüber jeder und insbesondere der Jäger und der Astronom nur lachen kann.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, daß die Dämmerungszahl weder die aktuelle oder maximale Pupillengröße des Beobachters, noch die Transmission des Fernglases noch den Stiles-Crawford-Effekt berücksichtigt. Auflösung und Kontrast spielen dabei ohnehin keine Rolle.
Man kann zum Thema Dämmerungszahl eigentlich nur das Tuch des Schweigens breiten und sagen „requiescat in pace“.
Walter E. Schön