Vorab: Ich brauche Kritik an meinen Meßergebnissen nicht zu fürchten! (Aber ich weiß, daß Sie gar nicht kritisiert haben und dies sogar noch hervorheben wollten.)
Die alten Nikon-Angaben waren nicht Ergebnis von Messungen des scheinbaren Sehwinkels, sondern einfach das mathematische Produkt aus dem tatsächlichen Sehwinkel und der Vergrößerung. Beispiel: Beim Nikon 10x35 E II beträgt der tatsächliche Sehwinkel 7°, so daß sich nach Multiplikation mit der Vergrößerung 10x der Wert 70° ergibt. Diese Multiplikation war und ist auch bei den meisten anderen Herstellern üblich, stimmt jedoch nur dann, wenn das Fernglas eine kissenförmige Verzeichnung von genau dem Ausmaß zeigt, daß die sog. Winkelbedingung erfüllt ist. Das ist bei vielen Ferngläsern europäischer Hersteller, die mit relativ starker kissenförmiger Verzeichnung dem Globuseffekt entgegenwirken sollen, näherungsweise der Fall, allerdings nicht bei den Nikon-Ferngläsern, da diese eine nur sehr geringe kissenförmige Verzeichnung aufweisen. Daß Nikon trotzdem die für die eigenen Ferngläser „falsche“ Formel benutzt hat, dürfte daran liegen, daß sie sich den Gepflogenheiten der europäischen Mitbewerber angleichen wollten, um bei annähernd gleichem tatsächlichen Sehwinkel bzw. annähernd gleichem Sehfeld (in Meter auf 1000 m) im resultierenden Zahlenwert keine schlechteren Werte zu haben. Hätten sie es nicht so gemacht, hätten Kunden aus dem sich bei korrekter Berechnung ergebenden etwas kleineren Wert bei Nikon eventuell auf eine „engere Sicht“ geschlossen. Denn tatsächlich ist es so, daß die von den europäischen Herstellern gewollte kissenförmige Verzeichnung das Sehfeld quasi künstlich aufbläht, ohne daß der Beobachter deswegen mehr Umfeld sehen kann. Er sieht nur den Randbereich ein bißchen stärker vergrößert!
Nun hat aber letztes Jahr Nikon alle Angaben zum scheinbaren Sehwinkel nach der angegebenen ISO-Norm neu berechnet, und die gibt vor, den Wert zu deklarieren, der sich nach der Tangentenbedingung ergibt, also nach der Formel
SSW = 2 · arc tan [V · tan (TSW/2)]
mit SSW = scheinbarer Sehwinkel, V = Vergrößerungsfaktor und TSW = tatsächlicher Sehwinkel.
Dieser Wert gibt also denjenigen
fiktiven scheinbaren Sehwinkel an, der sich ergäbe, wenn das Fernglas unverzeichnet abbildete. Das ist zwar bei den Nikon-Ferngläsern nicht ganz der Fall, denn auch die verzeichnen noch ein klein wenig kissenförmig, aber es kommt der Realität bei Nikon sehr viel näher.
Die von mir angegebenen SSW sind jedoch keine aus dem tatsächlichen Sehwinkel und der Vergrößerung errechnete, sondern gemessene Werte. Sie geben also genau den Winkel an, unter dem der Beobachter beim Blick ins Fernglas den Durchmesser des Sehfeldkreises sieht. Der von mir gemessene Wert berücksichtigt also die tatsächliche Verzeichnung, bei Nikon also die relativ bescheidene Verzeichnung von z.B. 2% bis 3% und etwa bei Zeiss die vergleichsweise hohe Verzeichnung von z.B. 8% bis 10%. Die Verzeichnung wächst übrigens überproportional mit dem Sehwinkel, weshalb Ferngläser bei gleicher Grundkonzeption hinsichtlich der Verzeichnung mit Tunnelblick stets weniger und solche mit weitem Sehwinkel stets höher verzeichnen.
Man könnte also folgende drei SSW-Angaben machen:
1. Nach der Tangentenbedingung gemäß ISO-Norm. Dieser Wert ist ein
fiktiver Wert, weil er die Verzeichung nicht mit einschließt. Bei Ferngläsern, die sehr wenig verzeichnen, kommt er dem gemessenen SSW sehr nahe.
2. Nach der Winkelbedingung durch Multiplikation des TSW mit der Vergrößerung, Dieser Wert ist ebenfalls ein
fiktiver Wert, weil er eine solche kissenförmige Verzeichnung zugrundelegt, wie sie zur Erfüllung der Winkelbedingung nötig wäre, die aber oft größer ist als im Einzelfall die wirkliche Verzeichnung des Fernglases. Bei den Ferngläsern der europäischen Hersteller, die bewußt eine relativ hohe Verzeichnung zur Behebung des Globuseffekts wählen, ist der so errechnete SSW zwar (fast?) immer etwas größer als der gemessenen, kommt ihm aber relativ nahe.
3. Der gemessene Sehwinkel, wie ich in ermittelt und in meiner langen Tabelle angegeben habe, ist
der einzige, der wirklich mit dem übereinstimmt, das der Beobachter sieht. Er schließt die jeweilige Verzeichnung des Fernglases automatisch ein.
Wenn die nach 1 und nach 3 ermittelten SSW genau genug wären (der nach 1 ermittelte ist so gut wie nie genau genug, weil der zugrundegelegte tatsächliche Sehwinkel bestenfalls auf eine Nachkommastelle genau gerundet angegeben wird, was leider nicht ausreicht; die Genauigkeit müßte um eine Zehnerpotenz besser sein!), dann könnte man aus beiden den Prozentwert der kissenförmigen Verzeichnung berechnen.
Walter E. Schön