Wer sich genauer mit der „geometrischen Optik“ des binokularen Fernglases und mit den vielfältigen Mechanismen beim Sehen des menschlichen Auges befaßt, stellt bald fest, daß das Fernglas zwar eine phantastische Detailerkennung ermöglicht und so dem Sehen ein erweitertes Potential verschafft, aber auch den Sehapparat aufgrund einiger beim natürlichen Sehen nicht vorkommender „Unstimmigkeiten“ stark fordert und zuweilen sogar überfordert. Ein Beispiel dafür ist die Diskrepanz zwischen der (scheinbaren) Entfernung, in der sich der Gegenstand beim Blick durchs binokulare Fernglas aufgrund der Vergenz (= Winkelstellung der Augenachsen relativ zueinander) befinden sollte, und der Entfernung, in der das virtuelle Bild des Gegenstandes wirklich liegt und auf das die Augenlinse fokussieren muß. (Ein anderes Beispiel ist die scheinbare Vergrößerung des Gegenstandes in Breite und Höhe bei gleichzeitiger Stauchung der Tiefe, was dann zum „Kulisseneffekt“ führt.)
1. Aufgrund der Vergrößerung durch das Fernglas, der Parallelität der optischen Achsen beider Fernglashälften und der bei Dachkantferngläsern oft nur geringfügig, bei Porroferngläsern aber fast um den Faktor 2 vergrößerten Stereobasis (= Achsenabstand der Objektive) ergibt sich eine stark vergrößerte Vergenz: Die Augen müssen bei einem nahen Gegenstand beim Blick durchs binokulare Fernglas so stark „einwärtsschielen“, d.h. ihre Achsen müssen so stark konvergieren, als ob der Gegenstand in einer Entfernung läge, die näherungsweise gleich ist der tatsächlichen Entfernung geteilt durch den Vergrößerungsfaktor und geteilt durch das Verhältnis zwischen Objektivachsenabstand durch Augenpupillenabstand (Augenweite). Wenn wir beim 10x42-Fernglas bleiben, mit dem diese inzwischen recht lang gewordene Diskussion gegonnen hat, und wir mit einer durchschnittlichen Augenweite von 65 mm rechnen, muß also der tatsächliche Abstand durch 10 und durch 70/65, insgesamt also durch ca. 10,77 dividiert werden (70 mm beträgt der Objektivsachsenabstand der 10x42 L IS WP). An der Nahgrenze dieses Fernglases von ca. 2,2 m müssen die Augenachsen also konvergieren wie bei einem nur ca. 20,4 cm entfernten Gegenstand.
2. Nun ist beim normalen Sehen ohne Fernglas die Entfernung, auf die sich die Vergenz einstellen muß, dieselbe wie die, auf die die Augenlinse fokussieren muß. Folglich können beide „synchronisiert“, also miteinander gekoppelt werden, was tatsächlich auch im Gehirn geschieht – allerdings nicht so starr, daß es sich nicht ändern ließe. Man kann also willentlich und unter bestimmten Bedingungen auch unwillkührlich die Augenlinsen auf eine andere Entfernung fokussieren als die, für welche sich die Vergenz eingestellt hat.
2.1 Ein Beispiel für die willentliche Einstellung ist das bewußte ein- oder Auswärtsschielen bei der Betrachtung stereoskopischer Bildpaare (bei regulärer Anordnung der Bilder —> Auswärtsschielen, bei vertauschter Anordnung —> Einwärtsschielen). Trotzdem können die Augen auf die tatsächliche Entfernung des Bildpaares fokussieren, die gar nicht zur veränderten Vergenz paßt, so daß der Batrachter ein scharfes dreidimensionales Bild sieht.
2.2 Ein Beispiel für die unwillkürliche Einstellung liegt vor, wenn ein Brillenträger einen Gegenstand mal mit und mal ohne Brille betrachtet. In beiden Fällen ist die Vergenz nahezu identisch, aber die Augenlinsen müssen ganz unterschiedlich fokussieren. Der Betrachter wird, sofern beide Fokussierungsentfernungen noch innerhalb seiner Akkommodationsbreite liegen, den Gegenstand dann ohne und mit Brille scharf sehen.
Man sieht daran, daß die Verkoppelung von Vergenz und Fokussierung nur sehr locker ist, und deshalb ist sie nicht so dominant, daß der Fernglasbeobachter sein Fernglas so fokussiert, daß auch das virtuelle Bild in der Entfernung liegt, die der Vergenz entspricht. Vielmehr ist ja auch das Bestreben wirksam, die Fokussierung des Fernglases so einzustellen, daß das Auge entspannt sieht, und das ist beim nicht fehlsichtigen Auge bei etwa 1 m bis 2 m Entfernung der Fall. Insofern trifft Ihre (erneut intuitive) Annahme ...
(Zitat) „Wenn ich im Fernglas mit 10 facher Vergrößerungen einen Gegenstand in 2 m Entfernung beobachte, dann haben meine Augen einen Winkel zueinander, als ob sie diesen Gegenstand aus 20 cm. Entfernung sähen. Die Augen sind dann auch auf 20 cm Entfernung fokussiert.“ (Zitatende)
... nicht zu. Übrigens ergibt sich das auch schon ganz einfach aus der Tatsache, daß ein älterer Beobachter mit z.B. nur noch 1 dpt bis 2 dpt Akkommodationsbreite sonst gar nicht mehr auf den vollen Entfernungsbereich des Fernglases scharf einstellen könnte! Daß Sie dennoch beobachtet haben, daß bei einäugigem Durchschauen durch ein zuvor beidäugig auf den Gegenstand fokussieres Fernglas mit ein wenig Konzentration und Anstrengung umfokussieren müssen, liegt einerseits an der doch noch schwachen (!) Verkopplung, aber andererseits und vermutlich überwiegend daran, daß nun das Gehirn mit zwei verschiedenen Bildinformationen (z.B. linkes Auge schaut ohne Fernglas, rechtes schaut durchs Fernglas) konfrontiert und irritiert wird. Und selbst wenn Sie das nicht durchs Fernglas schauende Auge schließen, liefert dieses Auge ein Steuersignal, nämlich zur entspannten Einstellung (Stichwort „Nachtmyopie“, worauf ich an andere Stelle hier im Forum schon einmal näher eingegangen bin).
Wie man sieht, ist es ein bißchen gefährlich, sich in physikalischen und physiologischen Zusammenhängen nur auf Intuition, also letztlich Vermutungen auf Basis unzureichender Berücksichtigung aller wirkenden Einflüsse, zu verlassen und daraus logische Schlüsse abzuleiten. Der Natursissenschaftler tut gut daran, Intuitionen bestenfalls als ANREGUNGEN zu neuen Erklärungsversuchen anzusehen, sie aber nie für verläßliche Grundlagen zu halten.
Walter E. Schön