Jedes Land hat irgendwelche Gepflogenheiten, die es so nicht überall oder gar nur dort gibt. Aber das allein kann kein Grund sein, diese Gepflogenheiten aufzugeben. Nicht selten gehören Sie sogar zur „Kultur“ und „Tradition“ des Landes.
Mir scheint es übrigens auch eine speziell deutsche Gepflogenheit (zumindest seit dem verlorenen zweiten Weltkrieg aus erkannter oder vermuteter kollektiver Schuld resultierendem Verlust an Selbstbewußtsein) zu sein, eigene Standpunkte, Sitten und Gebräuche aufzugeben und sogar die hier seit Jahrhunderten gewachsene Sprache aufzugeben. Man benutzt die Formel „typisch deutsch” fast immer nur in negativem Sinne, feiert „Halloween“, als wäre es schon immer ein deutsches Fest gewesen (wer weiß denn hierzulande überhaupt, was und warum da eigentlich gefeiert wird?), wünscht einander nicht mehr „frohe Weihachten“ oder gar „gesegnete Weihnachten“, sondern „merry Chistmas“ oder, was noch schlimmer ist, „merry Xmas“. Man macht aus Haralds Würstelbude „Harry's Sausage Center“, funktioniert Apostroph und s des sächsischen Genitivs um zur Mehrzahlform („viele Auto’s”), „sourct“ („sourced“?) Firmenteile aus oder „outsourced“ sie gar, statt sie auszulagern, nennt das, was bislang immer Ausrüstung hieß, jetzt „Equipment“, fragt nicht, ob das neue Fernglas (um zum Thema dieses Forums zurückzukehren) die erwartete gute Leistung bringt, sondern wie es „performt“, protestiert nicht, wenn die Politiker von der „Roadmap“ faseln oder diesen Stufenplan in vermeintlich korrektem Deutsch als „Straßenkarte“ bezeichnen, hält die „Westbank“ für den offiziellen Namen eines Landesteils (oder gar für eine Zweigstelle der „Westdeutschen Landesbank“ (West-LB), statt darunter das zu verstehen, was es wirklich ist, nämlich das Westufer (des Jordans). Apropos „des Jordans“: Das Genitiv-s wird nicht nur oft nach englischer Sitte und im Deutschen falsch mit Apostroph abgetrennt, sondern in vielen Fällen und insbesondere bei Eigennamen einfach weggelassen („des Jordan“, „des Siemens-Konzern“ oder noch falscher wie im Englischen ohne Bindestrich „des Siemens Konzern“).
Warum nur schämt sich der Durchschnittsdeutsche seiner sprachlichen Eigenarten und merzt (noch schlimmer: „märzt“) sie aus, um an ihrer Stelle vor allem englische Brocken und diese oft noch in falscher Bedeutung (z.B. „Administration“ im Sinne von Regierung statt korrekt Verwaltung) und oft noch in falscher Beugung {„die Babies“ oder noch schlimmer „die Baby's“ statt richtig „die Babys“) zu gebrauchen?
Um zum „Du“ und „Sie“ zu kommen: Oft wird gesagt, im Englischen spächen sich alle mit „Du“ an. Das ist kompletter Blödsinn. Man könnte genauso behaupten, alle sprächen sich mit „Sie“ an. Beides ist falsch. Alle sprechen sich mit „you“ an, und das ist eben die einzige Form, die sowohl dem „Du“ wie auch dem „Sie“ entsprechen kann. Der subtile Unterschied zwischen dem „Du“ und „Sie“ drückt sich im Englischen in anderer Weise in der Formulierung aus, z.B. durch ein hinzugefügtes höfliches „sir“ oder „madame“ („Thank you, sir“ - warum sagen dann die Deutschen, die das als „Du“ interpretierte „you“ gern als Argument gegen das Siezen verwenden, dann nicht analog im Deutschen „Ich danke dir, mein Herr“?). Auch wenn die Anrede „Sie” im Rückzug ist (wenn Sie z.B. die Briefe lesen, die Wolfgang Amadeus Mozart seinem Vater Leopold geschrieben hat, werden Sie feststellen, daß er damals sogar als selbst erwachsener Mann seinen Vater noch mit „Sie“ angesprochen hat), ist es nach wie vor die gängige korrekte Anrede von Erwachsenen, die einander nicht durch Verwandschaft, Freundschaft oder engen beruflichen Kontakt („Du“ unter Kollegen, in Vereinen, in einigen Parteien oder Gewerkschaften) verbunden sind. Ich habe absolut nichts dagegen, wenn zwei Personen einander auch ohne eine derartige Verbundenheit duzen, sofern BEIDE damit FREIWILLIG einverstanden sind. Aber ich habe viel dagegen, ungefragt geduzt zu werden und wegen der Gefahr, daß man andernfalls als Außenseiter, Spielverderber oder überheblich gilt) andere duzen zu sollen. Mit meinem obigen Appell wollte ich nichts anderes, als um Rücksichtnahme auf eine derartige Einstellung zu bitten und zu vermeiden, daß auch in diesem sich bisher im Vergleich zu vielen anderen Foren durch höflichere Umgangsformen auszeichnenden Forum das Zwangsduzen eingeführt wird.
Was das Duzen oder Siezen entfernterer (angeheirateter) Verwandter betrifft, so hatte ich nie Probleme damit, die Eltern des Mannes meiner Schwester oder die Eltern der Frau meines Brudes zu siezen. Wir haben nicht oft persönlichen Kontakt (jetzt lebt in beiden Fällen nur noch die Mutter), aber wir siezen einander immer. Warum nicht? Auch in meinem beruflichen Umfeld gab und gibt es viele Personen, mit denen ich sehr engen Kontakt und sogar teilweise auch Freundschaft pfegte, aber selbst dann war das „Du“ die Ausnahme. Das „Sie“ erleichtert im Beruf oft das Miteinander, insbeondere dann, wenn man später Vorgesetzter wird.
Die von Ihnen angesprochene Konfliktsituation bei persönlichen Begegnungen von Menschen, die miteinander vorher nur in einem Forum oder auf andere Weise schriftlich kommunizierten und dabei das (Zwangs-)Du benutzten, bestätigt doch meine Vorbehalte gegen das Du. Warum wird man plötzlich verlegen und weiß nicht, ob man beim Du bleiben oder doch besser Sie sagen soll? Weil man jetzt erst merkt, daß das Gegenüber ein Individuum und kein Anonymus aus einer homogenen Masse ist. Man steht plötzlich einer Person gegenüber, die dem Alter nach Vater oder gar Großvater, Mutter oder Großmutter sein könnte, und die mit „Du“ anzureden man sich außerhalb eines Duz-Forums nie herausgenommen hätte. Man sieht sich als kleiner Angestellter plötzlich einem Firmendirektor oder Hochschulprofessor gegenüber, den man zuvor im Forum noch mit einem kumpelhaften „Du“ angesprochen hatte. Man merkt plötzlich, daß dieses „Du“ eigentlich nicht angemessen war und bekommt Gewissensbisse. Und was lernt man daraus? Doch sicher nicht, daß man sich um diese Gewissensbisse einen Dreck scheren und nach Stammkneipen-Manier grundsätzlich alle weiterhin mit „Du“ anreden soll, sondern daß man es sich vorher überlegen sollte, ob das gedankenlose gebrauchte oder aufgezwungene „Du“ die richtige Anrede unter Menschen ist, die einander nur sehr flüchtig in einem winzigen Ausschnitt ihrer Persönlichkeit (nämlich als Gleichgesinnter bei irgendeiner Liebhaberei) kennen. Der Intelligente unterscheidet sich vom Unintelligenten u.a. dadaurch, daß er VORHER darüber nachdenkt und nicht nachher, wenn der Konfliktfall eingetreten ist.
Das war ausnahmsweise mal sehr abseits des Themas dieses Forums (für alle, die die deutsche Sprache bereits verlernt haben: es war „off topics“), aber weil es die Umgangsformen zwischen den Forumsteilnehmern betrifft, sollte es erlaubt sein, auch so etwas mal ausführlicher anzusprechen. Ich hoffe, in dieser Meinung hier in diesem Forum nicht allein zu sein.
Walter E. Schön