Eigentlich wollte ich hier doch raus, aber das Beispiel gibt mir eine solche Steilvorlage, dass ich mich noch ein einziges Mal melde :-)
Herr Schön schreibt:
"..Würde sich die Linie verbiegen, wäre es per definitionem kein verzeichnungsfreies Fernglas.."
Und sie verbiegen sich doch! Das liegt aber nicht an dem Fernglas, sondern an den Eigenschaften des visuellen Raums. Oomes und Koenderink haben diese tonnenförmige Verzeichnung doch gemessen. Wem das seltsam erscheint, der kann das Helmholtz Experiment auf meiner Webseite an sich selbst ausprobieren
www.holgermerlitz.de/globe/verzeichnung.html
oder den Herren Oomes/Koenderink eine Email schreiben und sich beklagen, warum sie so einen Mist gemessen haben. Ich bin auf deren Antwort gespannt!
Was ich sagen will: Selbst wenn die Verzeichnung des Fernglases verschwindet, dann bleibt die Restverzeichnung des visuellen Raumes weiterhin bestehen: f(x) = x, ja, weil verzeichnungsfrei, aber g(f(x)) wird dann zu g(x), und g(x) muss nicht die Identität sein! Daher hat man eine leichte tonnenförmige Verzeichnung, die dann beim Schwenken den Globus, nicht Zylinder, erzeugt.
Und nun zu Ihrem Modell, Herr Schön. Sie schreiben zu dem Zylinder:
"...Effekt, den das Gehirn sich plausiben durch eine sich drehende gewölbte Fläche erklärt und darum eine solche empfindet."
Und damit drücken Sie sich um eine saubere Modellierung des Vorgangs. Der Zylinder ist in Ihrem Modell eine Einbildung oder optische Täuschung. Wenn Sie damit zu einem Wahrnehmungspsychologen gehen, dann wird er sagen, das sei wunderbar, aber wie modellieren Sie diesen Wahrnehmungsprozess? In der Wahrnehmungspsychologie gibt es nämlich keine Einbildung oder Täuschung, alle Prozesse finden real im visuellen Raum statt. Deshalb hat man ihn eingeführt, denn man könnte über Jahre hinweg einen eingebildeten Prozess diskutieren, ohne zum Ziel zu kommen. Wissenschaftler A sagt: Die Einbildung existiert. B sagt: Sie existiert nicht. Wer hat recht? Kann nicht entschieden werden, und ein solches Modell ist daher gar nicht falsifizierbar und somit nicht wissenschaftlich.
Man muss daher den entsprechenden visuellen Raum einführen, in dem der Prozess (hier: Zylinder) real und wirklich modelliert wird. Dazu können Sie eine Transformation g verwenden, wie ich es in meinem Paper gemacht habe. Dies nennt man den analytischen Zugang. Alternativ gibt es noch den axiomatischen Zugang, den habe ich in meinem vorigen Beitrag verwendet, um Ihnen zu zeigen, dass die gemeinsame Annahme eines zylindrischen Geschwindigkeitsfeldes und eines unverzeichneten Raumes zu Inkonsistenzen führt. Sie werden feststellen, dass ich dort den Zylinder selbst, und dessen Bewegungsgleichung, gar nicht explizit ausformuliert habe, sondern nur allgemeine Bedingungen an das Vektorfeld aufgestellt habe, um meinen Beweis zu führen. Dieser axiomatische Zugang ist oft einfacher und gilt dann gleich für eine ganze Klasse von visuellen Räumen, liefert aber meist nicht direkt numerische Werte, die man für eine Computervisualisierung braucht. Die Computeranimationen auf meiner Webseite sind daher ein Produkt des analytischen Zugangs, und zeigen die Wahrnehmung direkt im visuellen Raum.
Lange Rede, kurzer Sinn: Ihr Modell erscheint einfach und einleuchtend, weil Sie den Kernpunkt nicht ausformulieren, sondern als optische Täuschung kaschieren. Damit versuchen Sie einen Zylindereffekt zu formulieren, der
a) einen rotierenden Zylinder im Gehirn (Wahrnehmung) erzeugt
b) keine Verzeichnung braucht
c) mathematisch einfach ist
Wenn Sie rangehen und Ihr Modell wirklich im visuellen Raum formulieren (und das werden Sie müssen, wenn Sie es publizieren wollen, denn Täuschung oder Einbildung lässt kein Gutachter durchgehen), dann werden Sie feststellen, dass a) und b) inkompatibel sind, wie ich bereits gezeigt habe. Nachdem Sie die Inkonsistenzen ausgeräumt haben, werden Sie feststellen, dass auch Sie eine Verzeichnung (des visuellen Raumes) brauchen, d.h. eine g-Funktion. Dann wird aber Punkt c) nicht mehr erfüllt sein. Wir können darüber wieder diskutieren, dachdem Sie Ihr Modell vollständig und konsistent formuliert haben, denn es macht keinen Sinn, über Modelle zu reden, die noch mathematische Inkonsistenzen besitzen.
Und Tschüss, und frohes Fest
Holger Merlitz